Rezensionen - Hans Gärtner für litera-bavarica.de
 

Renzensionen - Hans Gärtner für litera-bavarica.de

Schwindelköpfe, Schwätzer und Schmarotzer

 18.03.2021 |  Hans Gärtner für litera-bavarica.de

Zeitungsinserate sind für Blattnutzer noch heute ein gefundenes Lese-Fressen. Auch wenn sie auf das in der Anzeige gemachte Angebot nicht eingehen, also auf die „reich bestickte Lederhose, ca. 80 J. alt“ verzichten, regt sie ein solcher Text an, sich Geschichten zu dem angepriesenen Kleidungsstück auszudenken. In der Kürze steckt Würze. Steckt reichhaltiges Futter für die Fantasie. Besonders beliebt: Heirats- und Partnersuchinserate, aus denen sich im Kopf ganze Liebesabenteuer stricken lassen – Stoff fürs Stillen eigener Sehnsüchte oder für gute Ratschläge an die noch immer ledige große Schwester. Große Dramen ergeben sich da aus Kleinanzeigen.

Helmut A. Seidl, Augsburger Germanist mit volkskundlichem Interesse, Autor des leider vergriffenen Buches „Sprichwörtliches über Altbayern“, gefiel es,  den Jahrgang 1848 des Münchner Massenblattes „Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik“ (Verlag: Karl Robert Schuricht) auf einen kleinen, jedoch erstaunlich ergiebigen Sektor dieser Tageszeitung zu untersuchen: Schmähinserate. Könnten Seidls Erfindung sein, sind aber NN-original. 

Nachdem Bayerns Maximilian II. 1848 die Presse-Vorzensur aufgehoben hatte, durfte öffentlich drauflos geschimpft, gewütet, beschuldigt, Gift gespritzt, angeprangert und gelästert werden. In München und rundherum schien sich des Volkes Zorn bedenkenlos entzündet und entladen zu haben. Die Rede ist von Haderlumpenweibern und Hofschauspielerinnen, Zechprellern und Zahlungsverweigerern, Ehestörern und Ehrabschneidern, frevelhaften Handlungen an heiligen Orten, heuchlerischem Haberfeldtreiben. Lustig? Schon. Aber auch tragikomisch. Geschichten, die an Deftigkeit, Missgunst und teuflischer Hinterfotzigkeit nichts zu wünschen übrig lassen.

In den zitierten und teils abgebildeten Anzeigen kommt Verborgenes und Abgründiges in des Volkes Seele zum Vorschein, ohne Zensur, ungeschminkt. Rückhaltlos. Sittenbildhaftigkeit in schillernden Farben. Quer durch alle Stände und Berufe, der Klerus nicht ausgenommen. Häme und Spott. Turbulentes Volkstheater. Viel erklärt, erläutert und kommentiert Seidl.  Kernige Gepflogenheiten des bayerischen Biedermeier und schöne alte  Bildzugaben bereiten der Leserschaft Vergnügen. Geradezu unendliche Geschichten lassen sich aus den Anzeigen fabulieren – über Spitzbuben und Lüstlinge, bestechliche Ärzte oder verleumdete Kellnerinnen. Man greife zu. Um am unverfälschten Münchner Leben um die Mitte des 19. Jahrhunderts  genussreich teilzunehmen. Gute Unterhaltung wünscht

Hans Gärtner

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom litera bavarica zur Verfügung gestellt.

Der Schrecken von Mühldorf

 16.05.2021 |  Hans Gärtner für litera-bavarica.de

Sie hätten tot sein können. Bei der Rückfahrt von Mühldorf nach Simbach stand ihr Zug unter heftigem Beschuss. Mutter und Sohn aus Josef Einwangers neuem Roman „Das Glaszimmer und ein Brief an den Führer“ haben überlebt. Sie waren von München aufs Land in die Nähe der „Hitlerstadt“ Braunau umgezogen. In ihrer Scheune verbirgt sich nun Felix‘ Vater, der an der Westfront gekämpft, diese aber heimlich verlassen hat, um zu Frau und Kind zu desertieren. Von der Ortsgruppenleitergattin, die nicht ahnt, dass der Soldat sich ganz in ihrer Nähe befindet, erfährt die Mutter, „dass es in Mühldorf noch Mehl und Zucker zu kaufen gebe … solange der Vorrat reiche“. Die Lebensmittelnot wächst. Also, auf nach Mühldorf! Mit dem Zug. „Gleich übermorgen. In der Frühe hin, am Nachmittag zurück“. Die Mutter fährt. Ihr Zehnjähriger begleitet sie.

Um 11.45 Uhr kommen sie am Bahnhof Mühldorf an. Den Stadtberg (bei Einwanger: die Bergstraße) müssen sie hinunter, zur Ausgabestelle in der Altstadt. Plötzlich: Fliegeralarm. „Stufe II“. Felix kennt sich aus. Sirenen jaulen auf. Chaos. Gerenne. Anweisung: „In den Schwaiger-Keller, gleich hier an der Straßenwende!“ Der alte Bierkeller füllt sich. „Der Bunker bebt. Die Leute zittern.“ So einen Bombenhagel hat man hier noch nie erlebt, seit der Hitler-Krieg wütet. Später weiß man, was es war: „ein verheerender tödlicher Angriff“.

Ein Wunder, dass Mutter und Sohn mit heiler Haut - wenn auch nach Strapazen sondergleichen und mit leeren Taschen - ihr Dorf erreichen. Sie überleben die Tieffliegerangriffe, stets die Angst im Nacken, den daheim versteckten Vater nicht mehr zu sehen. Nach drei Stunden nächtlichen Fußwegs wirft Felix sich auf die Matratze in seinem „Glaszimmer“, wo bunte Scherben von der Decke baumeln und magisch funkeln. Das Feuer von Mühldorf hat man, so ist am nächsten Tag zu erfahren, im Dorf gesehen und den Gestank der Rauchschwaden gerochen. Felix trifft seine Freunde und berichtet: „In Mühldorf haben die Amis mit fünfhundert Bombern angegriffen, ich war mit meiner Mama im Luftschutzkeller. Uns ist nichts passiert. Es gab viele Tote …“

Von hundertdreißig Toten in Mühldorf redet Einwangers Ortsgruppenleiter Feik: „Mit den Flying Fortress und Mustangs haben sie angegriffen“. Sie? Er meint die Amis. „Über sechstausend Bomben auf Bahnhof und Stadt. Unmenschlich. In Italien waren sie gestartet …“

Seinen kleinen Helden lässt Josef Einwanger zum Eierdieb bei den Feiks werden. Kehrte man doch ohne Mehl und Zucker aus Mühldorf zurück. Felix‘ Mutter entschuldigt sich für den Diebstahl ihres Buben bei der Nachbarin: „Ja, weil Krieg und Not. Auch Felix steckt noch der Schrecken von Mühldorf in den Knochen, in der Seele …“ Frau Feik hat ein Nachsehen. Sie bittet Felix nur: „Erschreck nicht wieder unsere Hühner!“

Josef Einwanger erweist sich in dieser Szene, dem schweren Bombardement auf Mühldorf am Josefitag des letzten Kriegsjahres 1945, als relativ gut informierter Verfasser. 250 B-17-Flying Fortresses flogen, so ist inzwischen gesichert, die Luftangriffe der Amerikaner, dazu 450 Mustangs und Lightnings. Die Stadt wurde von 6.000 Bomben getroffen. 3.500 davon trafen allein das Bahnhofsgelände. 2.000 Eisenbahnwaggons wurden zerstört, der Bahnhof selbst nahezu ganz. 129 Menschen starben.

Der 2020 verfilmte, lesenswerte Roman des in Niederbayern geborenen und in Kiefersfelden lebenden 86-jährigen Schriftstellers (dessen 2007 ebenfalls verfilmtes Buch „Toni Goldwascher“ noch in guter Erinnerung sein dürfte) verarbeitet das für Mühldorfs neuere Stadtgeschichte bedeutsame Kriegsereignis höchst überzeugend. Vor allem bei jungen Leserinnen und Lesern in der Region könnte sein Buch Diskussionsthema zum Leben und Überleben in der Nazizeit werden. Einwangers Lektor Hans-Jürgen van der Gieth veröffentlichte hierzu ein „Literaturprojekt“. Es erschließt Inhalt und Aussage des Romans. Einwangers spannender, humorvoll erzählter Text lässt die NS-Zeit in Bayern für Jugendliche ab der 6. Jahrgangsstufe in ganz besonderer Weise erlebbar werden. Die Gegend am unteren Inn, in der der Roman spielt, wird darin zum erlebnisnahen Schauplatz von Geschichte.

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Diese Buchbesprechung hat uns freundlicherweise vom litera bavarica zur Verfügung gestellt.

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in Zusammenarbeit mit Gerhard Willhalm (stadtgeschichte-muenchen.de)


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